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Juse Ju: “Millennium” – Review – Album

21. Juni 2020 von

Cover "Millenium" ©Juse Ju Cover "Millenium" ©Juse Ju

Bereits auf seinem letzten Album “Shibuya Crossing” gab der Rapper Juse Ju verschiedene Einblicke in seine Vergangenheit. Nun schließt er dort an, wo er aufgehört hat: Auf seinem aktuellen Album “Millennium” rappt er von den 2000er Jahren und schafft es mit dieser Veröffentlichung erneut, persönliche Tracks zu liefern, die gleichzechzeitig viel Fläche für Identifikation bieten.

Nicht viele Rapper können aus so vielen unterschiedlichen Erfahrungen schöpfen wie Juse Ju. Zwar geboren in Kirchheim unter Teck verbrachte er seine Kindheit erst in Japan, später einen Teil seiner Jugend in El Paso, Texas. Sein von diesen Zeiten berichtendes Coming-of-Age Album “Shibuya Crossing” bewies, wie vielseitig und persönlich eine Biografie in Musik verpackt werden kann. Diese Vielfalt zeigt sich auf “Millennium” nicht nur in den Beats, die zwischen Gitarren-Hooks und Trap-Sounds schwanken, sondern besonders auf inhaltlicher Ebene. Juse Ju betrachtet den Beginn des 21. Jahrhunderts einerseits aus einer persönlichen Perspektive, andererseits mit Blick auf die damalige Rapszene. So behandelt der namensgebende Track “Millennium” die Rolle des Deutschrap zu Schulhofzeiten, in denen die Präsenz von Sido und Bushido maßgeblich beeinflussend war. Ebenso fallen Anekdoten aus des Zeiten des Kennenlernens mit Kollegen wie Fatoni oder Maeckes und auch Tua, Plan B, Kamp oder Whizz Vienna finden Platz und geben einen Einblick in das, was man als musikalische Herkunft Juse Jus bezeichnen könnte.

Das Gegenstück folgt auf “MTVs Most Wanted” feat. Mädness, bei dem besonders in der Hook und im ersten Part ein Auge auf Juse Jus aktuelle Position in der deutschen Raplandschaft geworfen wird. Doch genau in dem Moment, als man sich nach der Hook fragt, ob das jetzt nur “Deutschrap über Deutschrap” sei oder da eine tiefere Botschaft auf einen wartet, überrascht Mädness mit einem Part, den ich für mich als wichtig erachte:

Weiß, männlich, hetero, Mitteleuropäer / Dieses Schicksal war nicht schwer, ich hab’ Glück gehabt, nicht mehr / Glück gehabt, zu lern’n, nicht unterdrückt zu werden / Glück gehabt nicht für das, was ich bin, zu sterben

Viel zu selten sprechen weiße Cis-Männer ihr Privileg so offen aus, besonders in solch einer männerdominierten Szene, weshalb es mich an dieser Stelle immens freut, solch deutlichen Worte auf einem Track, der ausschließlich von Männern stammt, zu hören. Zusätzlich macht Mädness durch weitere Lines konkret auf das rassistische Attentat von Hanau aufmerksam und erinnert damit gleichzeitig auch an aktuelle rassistische Morde: Das White Privilege wird nicht nur zwischen den Zeilen angesprochen, sondern präsent in den Vordergrund gestellt. Doch “MTVs Most Wanted” bleibt nicht der einzige Track mit politischem Inhalt. So sticht besonders das Milli Dance (Waving The Guns) Feature “Edgelord” schon durch seinen düsteren, klirrenden Beat in der ersten Sekunde hervor.  Im Gegensatz zum sonst überwiegend harmonischen Storytelling des Albums greifen beide hier zu einer aggressiveren Wortwahl, um sich entschieden gegen Rassismen und Sexismen zu positionieren und zu betonen, dass es ein Privileg ist, unpolitisch sein zu können. Das Statement “Und du denkst, das sei Polit-Rap, aber das hier ist Ich-finde-du-bist-weak-Rap” verleiht dem ganzen eine kühne Attitüde, nimmt ihm aber trotzdem nicht seine Ernsthaftigkeit und Relevanz.

Neben den erwähnten Tracks finden auch “Ich hasse Autos” feat. Bonzi Stolle & Panik Panzer und “Kranich Kick” ihren Platz auf dem Album. Inhaltlich weniger tiefgreifend, dafür beide umso überzeugender mit starken Beats, die dem C.O.W.牛-Kollektiv zu verdanken sind, und zu Moshpits einladenden Hooks. Während das “Ich hasse Autos”-Musikvideo noch auf sich warten lässt, zeigt die audiovisuelle Version von “Kranich Kick” deutlich, wie viele Arbeit und Konzept hinter dieser Veröffentlichung steckt.

Doch so gut eine Hook oder ein Feature Part auf den bereits genannten Songs sein mag: Das wirklich Herausstechende an diesem Release bleiben für mich die persönlichen Erzählungen aus Juse Jus 20ern. In “Sayonara” rappt Juse von seinem damaligen Freundeskreis und dessen Entwicklung, über Outings vor der Familie bis hin zum ersten Kumpel, der Vater wird. Trotz den eindeutig persönlichen Bezügen, die eine Identifikation mit dem Erlebten im ersten Moment für viele Zuhörer*innen etwas schwieriger machen könnten (beispielsweise durch die Erwähnung von Anime-Songs oder den Einflüssen japanischer Gesänge), lassen andere Zeilen wie “Ich hab immer gedacht wir lägen gut in der Zeit, doch an dem Tag war unsere Jugend vorbei” genügend Spielraum, sich selbst in den Texten wiederzufinden, auch ohne Freundeskreis und Lebensabschnitte in Japan.  Auch dann, wenn es ganz spezifisch um die Zeit im Zivildienst in einer Psychiatrie (“TNT”) oder über die Tätigkeit als Redakteur im Trash-TV, gefolgt von kurzfristiger Modelkarrieren in Japan (“Model in Tokio” feat. Nikita Gordunov & Mia Juni), geht, lädt der Sound Zuhörer*innen stets zum mitfühlen ein. Auch ohne Zivildienst in einer Klinik mag der erste Vollzeitjob prägende Erinnerungen hinterlassen haben, sodass ein angenehmer Mix aus fremder Geschichte und Bezug zur eigenen Lebenswelt entsteht. Dieser Kontrast kann auch beim Abschluss des Albums “Unter der Sonne” kaum ignoriert werden. Trotz der individuellen Geschichte über das extravagante Leben seines Onkels und dessen Hoch- und Tiefphasen schafft Juse Ju es auch hier, Zuhörer*innen nahe zu kommen – oder zumindest mir.

“Nicht mehr lang bis erst der Frost liegt, dann Silvester 2014, dann das Hospiz / und als am neunten Januar die ersten Flocken runterkommen geht der coolste Dude unter der Sonne – Alexander Maler.”

Besonders durch die explizite Nennung des Todestags und seines Namens gingen mir die letzten Sekunden des Tracks näher, als ich erwartet hatte. Besonders dadurch, dass das Album nach dieser Zeile endet und es plötzlich still wird, bleibt dieses komische Gefühl im Magen und bringt einen selbst zum überlegen, zu wem man eigentlich aufschaut und wer so eine Lücke im eigenen Leben hinterlassen würde, wie dieser Onkel im Leben von Juse Ju.

Einen Track habe ich bis zu diesem Moment bewusst unerwähnt gelassen, da er in meinen Augen besonders hervorgehoben werden sollte: “Claras Verhältnis”: Songs über Ex-Partner*innen und gescheiterte Beziehungen gibt es in Massen und gerade im Deutschrap auch immer wieder auch in Form von Schuldzuweisung, Hass, Beleidigung, Wut und allen anderen Gefühlen, die typischerweise besonders Männern ihren Ex-Partnerinnen entgegenbringen (an dieser Stelle sei der Part von Panik Panzer auf dem Antilopen Track “Trenn dich” zu empfehlen). Auch bei Juse Ju ist bereits aus vorherigen Releases hervorgegangen, dass es scheinbar problematische Beziehungen in der Vergangenheit gegeben hat. So heißt es auf “Lovesongs”“Ich steh’ doch auch selber nur auf die narzisstischen Mädels mit Drogen- und Psychoproblemen”. Um was für Psychoprobleme es sich handelt, macht Juse an Clara, welche in Wahrheit einen anderen Namen trägt, deutlich. Clara glaubt, sie könne Gedanken lesen, führt Affären und verursacht vor allen Dingen eine toxische Abhängigkeit.

“Ja ja, wir sollten uns trennen, doch ich lieb’ das Gefühl an die Wand zu fahr’n / Teenagerfeeling wie Clearsil, ich möchte dich leider therapieren / du machst mich kaputt, ich mach dich kaputt, ich finde das klingt wie ein fairer Deal”

Juse Ju beschreibt (ohne despektierlich zu werden) genau das Gefühl, welches solch eine toxische Beziehung definiert: Das Gefühl, sich Gegenseitig heilen zu müssen und genau aus diesem Grund ab einem gewissen Punkt auch nicht mehr ohne die andere Person zurechtzukommen, begleitet von dem Wissen, dass man sich eigentlich nur selbst Schaden hinzufügt. Juse Ju benennt genau diese Gefühle, allerdings ohne einen Funken von Hass, Verurteilung oder Schuldzuweisung – eine Perspektive, die in meinen Augen viel zu selten auf diese Art und Weise dargestellt wird. Das paradoxe Gefühl der gleichzeitigen Abhängigkeit und dem Wunsch nach Besserung findet sich auch im wechselhaften Instrumental wieder. Geballt mit der Art und Weise, wie der Inhalt sprachlich herübergebracht wird, nämlich durch eine nahezu geschriene Hook und einem Anflug von Schmerz in der Stimme, gäbe es keinen besseren Weg, eine toxische Beziehung in Musik zu verpacken.

 

Abgesehen vom Album “Millennium” möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass dieses Album es gleich doppelt wert ist, auf CD oder Vinyl gekauft zu werden. Nicht nur, um durch den Kauf Künstler*innen und Produzent*innen in Zeiten von Corona zu unterstützen, sondern erst recht wegen des ausschließlich auf diesem Wege erhältlichen Albums “Popbizenemy” des Duos Massig Jiggs, bestehend aus Juse Ju und dem ebenfalls aus Kirchheim unter Teck stammenden Bonzi Stolle. Gemeinsam veröffentlichten sie im Jahr 2003 ein Album mit dem Titel “Back from the 80’s” und feiern nun mit dem beiliegenden “Popbizenemy” ihre Wiedergeburt, ebenso wie der ein oder andere unerwartete Featuregast. Obwohl der Kontrast zum Juse Ju Album stellenweise kaum extremer ausfallen könnte, ist es definitiv eine gelungene Ergänzung des physikalischen Tonträgers und eine Investition wert.

Fazit: “Millenium” hat ganz eindeutig zwei Seiten. Es mag eine total subjektive Präferenz sein, aber vermutlich hätte das Album für mich dadurch getoppt werden können, den Fokus noch mehr auf das biografische Storytelling zu legen, da ich besonders da die Besonderheit in Juse Jus Musik sehe. Auch wenn die Mischung aus persönlichen Geschichten und auflockernden Tracks die Vielseitigkeit seiner Musik gut präsentiert: Ohne Einschub von Tracks wie “Ich hasse Autos” wäre das Release am Stück noch einmal deutlich ergreifender und emotionalisierender gewesen. Bei einer sowieso knappen Spielzeit von etwas mehr als 30 Minuten hätte ich mir sehr gewünscht, in dieser Zeit auch vollständig auf Gefühlsebene abgeholt zu werden. Das ist aber keineswegs eine Kritik, die das Album abwertet, viel eher wäre das der eine Punkt, der das Album möglicherweise zu meinem persönlichen Release des Jahres hätte machen können. Aber auch so, wie es nun in meinem Regal steht, gilt: Juse Ju verfügt über die verschiedensten Facetten und schafft es immer wieder, diese miteinander in Einklang zu bringen und Identifikationsfläche zu schaffen, die gerade jetzt in Corona-Zeiten, in denen das Gefühl der Einsamkeit öfter präsent ist als im Normalfall, dem Rapfan-Herz richtig gut tut.

Autorin: Nelleke Schmidt

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21. Juni 2020

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