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Sido: Live im Autokino Düsseldorf – 26.04.2020

3. Mai 2020 von

Autokino Düsseldorf ©Nelle Autokino Düsseldorf ©Nelle

Aus „Jetzt die Arme von links nach rechts!“ wurde „Immer abwechselnd links und rechts blinken“, aus „Alle Feuerzeuge hoch!“ wurde „Wenn der Beat einsetzt machen alle das Fernlicht an“. Situationen, die ich noch Anfang März für komplett absurd gehalten hätte, sind im Autokino Düsseldorf Realität geworden. Zwar könnte man über diese Sido-Show schreiben, wie über ein ganz normales Konzert und sich dann über ein langweiliges Bühnenbild oder die schlechte Sicht beklagen aber zu einem Konzert, das mich nach langer Zeit zum ersten Mal Freudentränen weinen lassen hat, gehört deutlich mehr als das.

Dass sämtliche Großveranstaltungen den Sommer über verboten bleiben, steht nun fest, der Abschied vom geliebten Festivalsommer ist somit offiziell. Natürlich sind davon in erster Linie die Musiker*innen, Veranstalter*innen und alle anderen Personen betroffen, die in der Musik- und Eventbranche tätig sind. Aber auch, wenn keine Existenzen bedroht sind, sondern Konzerte lediglich ein Hobby sind, tun die Absagen weh. Um zu verstehen, warum ich dieses Sido Konzert so wahrgenommen habe, wie ich hier schreibe, ist das ein relevanter Umstand. Für die inzwischen rund 50 Tage Konzertverbot hatte ich ursprünglich 19 Konzerte geplant. An jedem Abend, an dem eines dieser Events stattgefunden hätte, habe ich alles, was dazu gehört, vermisst: Die Planung der Reisen, Fahrten in fremde neue Städte, Freunde vor und auf der Bühne sehen, Musik hören, Bässe spüren. Wenn das alles auf einmal wegfällt, bleibt ein ziemlich großes Loch. Das Autokino Düsseldorf hat es geschafft, dieses Loch für einen Abend zu füllen.

Zurück zum Anfang: Nachdem die ersten zwei Autokinokonzerte in Düsseldorf von Alligatoah angekündigt wurden, folgte ein Konzerttermin für Sido. Aktiv höre ich zwar keinen der beiden Künstler, aber mein Bedürfnis, endlich wieder jemanden auf einer Bühne rappen zu sehen, war verdammt groß. Einen kurzen Moment habe ich mit mir selbst gerungen, ob es das wert ist, das Ticket pro PKW kostete knapp 100€, dazu die Benzinkosten von Hamburg nach Düsseldorf, die ich mir mit niemandem teilen konnte. Da die Sehnsucht nach Livemusik stärker war, entschied ich mich schnell, ein Ticket zu kaufen. Rückblickend höchst naiv von mir zu glauben, 20 Sekunden nach Vorverkaufsstart würde es noch ein Ticket geben. Das Konzept “Autokinokonzert” scheint Interesse zu wecken und die 500 Tickets waren vergriffen, noch bevor ich ein zweites Mal die Seite aktualisieren konnte. Wobei sich fragen lässt, wie groß tatsächlich der Anteil an Fans ist, zieht man die Schwarzmarkthändler*innen ab. Eine viertel Stunde nach VVK-Start boomte der Schwarzmarkt mit Tickets zu allen Preisen, nur eben nicht zum Originalpreis. Auf diesen Verkaufserfolg reagierte Sido mit der Ankündigung des zweiten Konzertes. Also wieder den Wecker gestellt, 20 Minuten vorher schon am Laptop gesessen und sekündlich aktualisiert das alles übrigens ohne ein eigenes Auto zu besitzen um dann tatsächlich ein Ticket zu ergattern. Nachdem ich auch ein Auto organisiert hatte, realisierte ich, was ich gerade eigentlich geplant hatte. Ich würde ein Konzert besuchen, trotz Corona. Natürlich würde es nicht das gleiche werden wie „früher“. Aber als ich bei Sonnenschein auf die erste Landstraße fuhr, den Wind durch das offene Fenster spürte und lautstark meine Roadtrip-Playlist mitrappte, da fühlte sich dann doch alles an, als wäre es ganz normal.

Weniger normal wurde das Gefühl dann doch, als das Navi mich von der Autobahn lotste, ich plötzlich halten musste und ohne es bemerkt zu haben Teil der Einlassschlange geworden war. Auf drei Fahrspuren reihten die Fahrzeuge sich bereits eine dreiviertel Stunde vor Einlass bis auf die autokinoeigene Abfahrt. Soweit ich mich an vergangene Shows zurückerinnere, war das für ein Sido-Publikum ungewöhnlich früh. Aber wenn man nicht in der Kälte vor irgendwelchen Hallen stehen muss, sondern mit Snacks und Musik im Auto sitzen kann, scheint Anstehen deutlich attraktiver als zuvor. Nach langem Stop-and-Go und einer nervenraubenden Kurve, in der von drei Spuren plötzlich nur noch die mittlere übrig war, konnte ich nach Stunden endlich das Auto abstellen. Im Gegensatz zu Konzerten, wie man sie gewohnt ist, erübrigt sich im Autokino natürlich die Frage von wo genau man die Show sehen möchte. Wie weit vorn oder hinten Besucher*innen des Autokinos stehen, ist eine Frage der Ankunftszeit, wie weit seitlich oder in der Mitte eine des Glücks.

Auf dem Gelände angekommen wurden Besucher*innen direkt darauf hingewiesen, dass das Verlassen des Autos nur gestattet sei, wenn man sich zu den Toiletten oder Gastronomieständen begeben möchte, wobei Getränke und Speisen lediglich im Auto verzehrt werden dürfen. Auf dem Weg zu den  festen Toiletten war ein Merchandise Stand aufgebaut, entsprechend der aktuellen Umstände wurden jede Menge Vorkehrungen getroffen: Mindestabstand, keine Rückgabe der Artikel, keine Barzahlung und das Herüberreichen der EC-Karte nur an einen Mitarbeiter hinter einer Plexiglasscheibe. Soweit vorbildlich, aber einen negativen Beigeschmack hatten für mich die Merchandise-Masken. Käufer*innen konnten sich zwischen zwei Varianten entscheiden: Dem Sido-Logo oder dem Aufdruck “Ich und meine Maske”. Zwar handelte es sich auf den ersten Blick um qualitativ hochwertigen und waschbaren Stoff, doch in Zeiten, in denen es eine Herausforderung ist, die gesamte Bevölkerung mit ausreichend Masken zu versorgen, selbst welche zu bedrucken und diese dann für 13€ als Fanartikel zu verkaufen, ist in meinen Augen unangebracht. Denn fernab von Hip-Hop: Atemschutzmasken sollten für jeden so schnell und günstig wie möglich zur Verfügung stehen und nicht überflüssig teuer zu einem Merchandise-Artikel oder Modeaccessoire gemacht werden. Auf meine Meinung gegenüber des Events hat sich das natürlich nicht ausgewirkt, sollte aber trotzdem nicht unkommentiert bleiben.

Die Verhaltenshinweise vor 21 Uhr sowie die Übertragung des Konzertes konnten über das Autoradio mithilfe der richtigen Frequenz empfangen werden. Schon vor Konzertbeginn wurde deutlich, wie Publikumsinteraktion auf einem Autokinokonzert aussehen würde. Gemeinsam gab es drei Übungen, Melodien zu hupen (Anm.: Wer sich das gerne einmal genauer ansehen möchte, kann auch einen Blick in das entsprechende Storyhighlight des Abriss Instagram-Accounts werfen). Spätestens hier wurde mir klar, dass genau diese Art der Interaktion mein eigentliches Highlight werden würde.

Sido performte live auf der Bühne direkt vor der Kinoleinwand, entsprechend der vielen Reihen PKW von meinem Platz aus eher schwierig zu sehen. Durch den Fokus auf den Bildschirm fiel kaum auf, dass keine wirkliche Bühnenshow vorhanden war. Außer der Scheinwerfer links und rechts der Bühne, sowie ein paar Animationen zum aktuell gespielten Song, zeichnete sich die Show zum Großteil durch die Übertragung auf die Leinwand aus, welche abwechselnd Sido und DJ Desue, die Menge der Autos und, vereinzelt durch die Frontscheibe gefilmt, auch manche Fahrzeuginsass*innen zeigte. Mit einer Mischung aus neuen, poppigen Radiosongs und vielen alten Klassikern performte Sido eine Setlist, die wohl alle Besucher*innen zufriedenstellen konnte. Auch er selbst schien sein zweites Autokinokonzert genossen zu haben, denn mit der Erfahrung vom Vorabend war er beinahe durchgehend damit beschäftigt, das Publikum zu verschiedenen Aktionen zu veranlassen. Schnell entpuppte sich die Hupe als Running-Gag und Antwortmöglichkeit für nahezu alles. Einmal kurz Hupen bedeutete “Ja”, falls Fragen gestellt wurden. Weiter wurde gehupt statt applaudiert und natürlich konnten auch Beats auf diese Weise mitgespielt werden. Auch beliebt: “Welche Seite der Crowd kann lauter hupen?”, “Wie viele Schrottkarren sind heute hier?”, “Wo sind meine Mercedes-Fahrer?”, sowie “Und jetzt nur die Frauen!”. Es scheint, als gäbe es beinah keine Publikumsinteraktion, die nicht durch die Autohupe ersetzt werden könnte. Hinzu kommen natürlich die Lichter der Scheinwerfer, Blinker und Innenraumbeleuchtung.

Der nächste ist ein richtiger Warnblinkersong! Und wenn der Beat einsetzt, machen alle das Fernlicht an “,

ersetzt Sido die normalerweise erhobenen Feuerzeuge in der Crowd und statt den Arm von links nach rechts zu schwenken, wird die Bewegung mit den Blinkern imitiert (was sich gar nicht als so einfach erwies). Jede neue Publikumsaktion brachte mich erst zum Lachen und kurze Zeit später zum Staunen, wie gut das ganze doch funktionierte und wie schnell es sich normal anfühlte, nach jedem Song wild auf die Hupe zu hämmern.

Obwohl ich, wie bereits erwähnt, kein großer Fan von Sido bin, ist mir der ganze Abend spätestens bei “Mein Testament” dann doch so nah gegangen, dass ich zum zweiten Mal für diesen Tag eine Freudenträne verdrücken musste. Nicht, weil mich der Song so sehr bewegte, sondern weil es plötzlich still wurde. Da waren keine Autohupen, keine laut sprechenden Menschen, niemand vor mir, der mir die Sicht versperrte. Alles was in dem Moment da war, war ein riesiges Lichtermeer aus Warnblinkern und das vollständig aufgedrehte Autoradio. Die Stille nach Abklingen des Songs verwandelte sich in ein unbeschreiblich lautes und gefühlt ewig andauerndes Hupkonzert. So sehr wie ich die Show selbst zu schätzen weiß, das wahre Highlight waren die Personen in den anderen 499 PKW, die mir das erste Mal wieder das Gefühl einer Crowd vermitteln konnten. Natürlich ist das nicht das gleiche, ohne eng beieinander vor der Bühne zu stehen und den Bass im Bauch zu spüren, ohne Moshpits, ohne seinen Freund*innen in den Armen zu liegen. Aber in Zeiten von Social Distancing ist es vermutlich nicht möglich, näher an das geliebte Gefühl einer Crowd heranzukommen, als es an diesem Abend in Düsseldorf geschehen ist. Für knapp zwei Stunden war mir nicht bewusst, in welcher Situation wir uns aktuell befinden und wie ernst die Lage eigentlich ist. Für diesen Zeitraum hat sich alles nach Normalität angefühlt und mir unglaublich viel Last von den Schultern genommen.

Fazit: Autokinokonzerte sind ohne Frage keine Lösung für immer. Automatisch ein Ticket für zwei Personen kaufen zu müssen, auch wenn man allein ist, und aufgrund der derzeit relativ begrenzten Menge Autokinos relativ weit fahren müssen, ist nicht das Optimum. Genauso wenig wie die Bühne kaum zu sehen, nicht das eigentliche Crowdgefühl zu spüren, nicht zu applaudieren und die anderen Menschen um sich herum nicht rappen hören zu können. Ganz abgesehen davon, dass ein Autokino nun eben auch erfordert, überhaut ein Auto zu besitzen oder immerhin jemanden zu kennen, der dies tut. Aber für die Situation, in der wir uns vorerst nun einmal befinden, scheint mir das die bestmögliche Alternative zu sein: Lieber ein Festivalsommer 2020 aus dem Hyundai meiner Eltern heraus, als gar kein Festivalsommer. An den Vorverkaufszahlen lässt sich erkennen, dass das Prinzip auf Interesse stößt. Mit dem Autokino auf dem Messegelände Hannover ist bereits eine zweite Stadt dazu gekommen und in wenigen Tagen wurden so viele Autokinokonzerte angekündigt, dass ich sie für diesen Artikel nicht einmal mehr alle zusammenkriege. Diese Nische entwickelt sich rasend schnell weiter, weshalb ich es mir gar nicht anmaßen will, jetzt über die Menge und Standorte der Locations oder die Auswahl der Musiker*innen zu sprechen, denn Fakt ist: Es tut sich etwas. Wer und was auch immer noch dazu kommen wird, ist jetzt nicht absehbar, doch verschiedene Acts und Autokinos werden sich ausprobieren und weiterhin an dem perfekten Konzerterlebnis arbeiten. Ich bin nach diesem Abend mehr als dankbar dafür, dass wir diese Chance, Musik zu erleben, geboten bekommen, zumindest bis ich wieder eng gequetscht zwischen anderen Rapfans stehen und mit meinen Freund*innen gemeinsam Moshpits eröffnen darf.

Autorin: Nelleke Schmidt

Das jeweils erste Autokinokonzerte von Alligatoah sowie Sido gibt es für begrenzte Zeit im Stream bei Arte Concerts zu sehen.

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3. Mai 2020

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